Forum Produktionssysteme gibt Impulse zur nachhaltigen Implementierung von Industrie 4.0.
Was haben eine Kindergärtnerin, ein Bankangestellter und eine Lebensmittelverkäuferin im Werk eines Autobauers verloren? Eine ganze Menge, wie die Teilnehmer der Fachtagung „Forum Produktionssysteme“ in Hannover Mitte Mai erfahren konnten. Volkswagen-Logistikdirektor Thorsten Campehl erzählte in seinem Vortrag von der Entstehung der neuen Fahrzeugfabrik in Polen. Dort wird seit September 2016 der VW Crafter hergestellt – mit Unterstützung branchenfremder Kräfte, die Fehler und Abweichungen von Standards identifizieren. Getreu dem Motto „Nicht der Experte sieht den Unterschied, sondern der Neugierige“ stellte der Konzern Menschen ein, die bisher nichts mit dem Automobilbau zu tun hatten, dafür aber andere Kompetenzen mitbrachten.
Während der Startphase der Produktion meldete die Gruppe regelmäßig Beobachtungen, aus denen Verbesserungen abgeleitet und umgesetzt wurden. „Für mich ist das einer der Erfolgsfaktoren überhaupt“, resümierte Logistik-Profi Campehl. Vom Baubeginn im polnischen Września bis zum Produktionsstart vergingen nur 23 Monate. „Das funktioniert nur, wenn man nach Standards arbeitet“, betonte Campehl und lieferte mit seinem Beispiel einen Beleg für den kreativen Umgang mit Korrekturen. Sein Einblick aus der Praxis ließ bei den 55 Teilnehmern des Forums die Stifte über die Notizblöcke fliegen, denn beim Thema Lean Management suchen viele Betriebe nach Impulsen.
Der Grund: „Es macht keinen Sinn, kranke Prozesse zu digitalisieren“, sagte Tagungs-Teilnehmerin Diana Semuhina, Controllerin beim Stahlbau-Spezialisten SEH Engineering in Hannover. Deshalb lautet das Motto in ihrem Unternehmen: erst aufräumen, dann digitalisieren. „Gerade bei der Digitalisierung wird durch die Medien und den Wettbewerb im Ausland ein hoher Druck aufgebaut“, ist Semuhina überzeugt. Schnell werde dann „irgendein Berater“ gesucht, der das Thema voranbringe. Dabei gehe es vielmehr darum, die Menschen im Prozess des digitalen Wandels mitzunehmen. „Diese Veränderung muss zur Unternehmenskultur gehören“, meint die Controllerin.
Wie Betriebe eine solche Kultur entwickeln können, wird am Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa) in Düsseldorf erforscht. Der ifaa-Fachbereichsleiter Unternehmensexzellenz, Dr. Frank Lennings, betonte unter anderem, dass Betriebe für einen gelungenen digitalen Wandel zuerst gute Bedingungen in den Bereichen Produktion, Führungskultur und Datenpflege schaffen müssen. Sein Fazit: „Es gibt noch Potenziale im konventionellen Bereich, die dürfen wir trotz aller Fortschritte im technischen Bereich nicht vergessen.“
Den Aufholbedarf niedersächsischer Betriebe beim Thema Industrie 4.0 sieht auch NiedersachsenMetall-Hauptgeschäftsführer Dr. Volker Schmidt. Er will besonders kleine und mittelständische Unternehmen ermutigen, jetzt die Weichen für den digitalen Wandel zu stellen. Denn sicher ist für Schmidt: „Ohne 4.0 wird unsere Industrie im globalen Wettbewerb nicht bestehen.“
Wie Digitalisierung konkret umgesetzt wird und Vorbereitungen dafür als Chance genutzt werden können, erläuterten weitere Referenten der Fachtagung. So gab Geschäftsführer Andreas Röders vom Druckgussteile-Zulieferer G.A. Röders in Soltau einen Einblick in die Fabrikplanung seines Betriebes. Der Geschäftsleiter Produktion der Kampmann Gruppe, Martin Weßling, referierte über die schlanke Produktion am Beispiel einer Montagelinie. Die Führungskraft als Motor der Veränderung stand im Fokus bei Jens Harde, dem Geschäftsführer des Luftfahrtzulieferers Arconic in Hildesheim. Abgerundet wurde das Programm am zweiten Tag durch einen Workshop und einen Rundgang im Werk von Arconic.